Im Portät

Stefan Treysse

Lieber Stefan, du hast vor einem Jahr deinen Job gekündigt, um mit 47 nochmal an die Uni zu gehen und Physik zu studieren. Wie kam es dazu?
Das mit dem Studium war gar nicht geplant. Gekündigt habe ich, weil ich mit meiner Arbeit unglücklich war. Das war keine leichte Entscheidung. Eigentlich mochte ich die Firma, das Produkt - Waschmaschinen - die Kollegen und die Arbeitsbedingungen. Trotzdem war ich mit meiner Position und verschiedenen Entwicklungen in der Firma so unzufrieden, dass ich nach 16 Jahren nicht mehr dort arbeiten wollte. Nachdem ich es über Jahre nicht geschafft hatte, etwas Entscheidendes an meiner Situation zu ändern oder mich damit abzufinden, habe ich mich dann im Dezember 2020 gekündigt.

Mein ursprünglicher Plan war, dass ich mir eine Stelle bei einer anderen Firma suche. Aber dann kamen Verschiedene Sachen zusammen, mit denen ich nicht gerechnet hatte: Als erstes natürlich Corona. Auf einmal mussten die Kinder zu Hause betreut werden. Zum anderen war die Vorstellung auf einer neuen Stelle anzufangen und dann von zu Hause aus zu Arbeiten für mich nicht verlockend.
Womit ich aber vor allem nicht gerechnet hatte, war wieviel Platz auf einmal in meinem Kopf war. Ich musste auf einmal nicht mehr über die Arbeit nachdenken. Und diesen Platz hat wie von alleine die Physik eingenommen. Erst nur als Hobby, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass da mehr ist.
Und so hat im April 2020 Tanja, meine Frau, mich gefragt, ob ich nicht vielleicht Physik an der Uni studieren will. Wir haben dann überschlagen, ob wir uns das leisten können und dann habe ich mich an der Technischen Universität eingeschrieben.
Im Juli ist dann noch mein Vater verstorben. Da war es gut, dass ich nicht gearbeitet habe. So konnte ich meine Mutter unterstützen und alles in Ruhe organisieren.
Seit Oktober studiere ich jetzt. Leider findet fast alles online statt. Ich genieße das Studium trotzdem. Ich muss aber feststellen, dass das Physikstudium sehr schwer und der Erfolg nicht garantiert ist. Trotzdem glaube ich, dass es die richtige Entscheidung war und dass am Ende etwas Gutes rauskommt, mit oder ohne Abschluss.Und ich glaube, meine Familie ist froh, dass ich mehr zu Hause bin und die Mehrbelastung durch Corona übernehme.

Du warst Turner und machst in deiner Freizeit viel Sport. Hat dir das geholfen, in der Pandemie nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen?
Ja, seit dem ersten Lockdown mache ich eher wieder mehr Sport als vorher. Das ist vor allem ein Ausgleich für die eineinhalb Stunden, die ich vorher fast jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit und zurück geradelt bin.
Bis Corona kam, habe ich einmal die Woche Sportakrobatik gemacht. Das ist wie Turnen aber mit Partner. Das findet seit einem Jahr nicht mehr statt. Jetzt laufe ich meistens am Kanal nach Neukölln oder in die Hasenheide. Manchmal gehe ich auch auf den neuen Trimm-Dich Platz vor dem Stadthaus Böcklerpark. Bei uns auf dem Hof haben wir eine Slackline gespannt auf der ich balanciere.
Wenn ich laufe oder mit dem Fahrrad fahre, kann ich gut nachdenken. Früher habe ich dann meistens an die Arbeit gedacht. Jetzt denke ich über Physik und Mathe nach. Die Bewegung schafft auf jeden Fall einen Ausgleich zu all den Einschränkungen durch Corona.

Seit wann lebst du in Kreuzberg und wie findest du die Kreuzberger Mischung?
Ich komme ursprünglich aus Berlin-Schöneberg und bin mit meinen Eltern 1991 nach Kreuzberg gezogen. Seit 1995 wohne ich in der Bergfriedstraße. Immer im gleichen Haus, aber in verschiedenen Wohnungen. Nach dem Abitur habe ich meinen Zivildienst im Urbankrankenhaus gemacht. Ich bin hier schon ganz gut verwurzelt.
Ich mag Kreuzberg und auch die Gegend in der wir wohnen. Trotzdem sehe ich auch die Probleme: Den Müll auf den Straßen, die Drogenszene am Kotti. Die Umgestaltung des Bezirks sehe ich aus zwei Perspektiven. Jedes neu sanierte Haus und jeder Neubau wertet die Gegend auf. Das gefällt mir, meist sehen die Häuser dann ja schöner aus. Aber ich sehe auch, dass es für Menschen mit geringem Einkommen schwieriger wird eine bezahlbare Wohnung zu bekommen. Das finde ich schade.

Besonders mag ich aber unsere tolle Hausgemeinschaft. Einige Nachbarn haben in den letzten zehn Jahren den ehemals schmucklosen Hinterhof in eine grüne Oase verwandelt. Wir haben Obstbäume, Gemüsebeete und allerlei Blumen. Ich warte jedes Jahr sehnsüchtig auf die Mohnblumen. Und aus den Kirschen und Quitten machen wir Marmelade.
Oft sitzen wir im Garten und trinken Kaffee oder grillen auch. Manchmal kommen dann Nachbarn aus den umliegenden Häusern dazu. Dann sitzen dort Berliner aus Deutschland, der Türkei, Russland und Eritrea zusammen und tauschen sich aus. Das ist sicher nicht die normale Hausgemeinschaft. Ich glaube, unser Hof hat eine gewisse Strahlkraft und die Menschen in den umliegenden Häusern freuen sich an den Blumen, auch wenn Sie den Garten nicht nutzen können.

Du kochst gerne – was ist dein Lieblingsgericht?
Ja, ich koche gerne. Seit einigen Jahren esse und koche ich kaum noch mit Fleisch. Das ist gar nicht so schwierig, aber fast alle Lieblingsgerichte meiner ersten 30 Lebensjahre fallen damit weg. Das heißt, die deutsche Hausmannskost koche ich fast nicht, obwohl ich sie noch ab und zu gerne esse. Mein Vater war Fleischermeister und meine Mutter kam aus der Gastronomie. Das hat mich geprägt. Ich glaube, mein Falafel und mein Humus ist eines meiner Lieblingsgerichte. Zum Kochen und zum Essen. Da habe ich mich schon voll in Kreuzberg integriert.

Wie bist du zur Kirche und in diese Gemeinde gekommen?
Konfirmiert wurde ich in der Kirchengemeinde Alt-Schöneberg. Das ist die rosa Dorfkirche an der Hauptstraße Ecke Dominicusstraße. Dort war ich auch über viele Jahre in der Jugendarbeit tätig. Auch als ich schon in Kreuzberg gewohnt habe. Alt-Schöneberg war eine sehr liturgische Gemeinde. Zwar gab es bei uns keinen Weihrauch, aber Ministranten und Vortragekreuz gab es dort auch. Das hat mich geprägt. Mir ist im Gottesdienst die Liturgie und das Abendmahl wichtiger als die Predigt. Im Studium war ich dann drei Jahre nicht in Berlin. Als ich dann 2001 wieder nach Berlin zurückkam und voll gearbeitet habe, ist mein Engagement in der Kirche eingeschlafen.
Erst mit der Taufe unserer Tochter im Jahr 2010 haben wir Kontakt mit der Gemeinde aufgenommen. Erst waren wir in St. Jacobi, aber wegen der freundlichen Uhrzeit und der Kindergottesdienste sind wir dann hauptsächlich in Melanchthon in den Gottesdienst gekommen.
Auch wenn wir seit Corona nur noch selten in den Gottesdienst gehen, ist mir die Kirche und der Glaube wichtig. Seit ich das Physikstudium begonnen habe, denke ich sogar mehr über Gott und meinen Glauben nach als vorher. Dabei schwankt mein Welt- und mein Gottesbild von Tag zu Tag. Es ist aber ein eher Naturwissenschaftliches.
Für mich persönlich ist das wichtigste am Christlichen Glauben die Vergebung der Sünden. Ich glaube tatsächlich, dass allen Menschen alles vergeben wird, egal wie schwer das manchmal vorstellbar ist. Und wenn man daran glaubt, befreit das. Egal was ich tue, mir wird vergeben. Und deshalb kann ich auch anderen vergeben, auch wenn das nicht immer leicht ist.

Was ist Dein Lieblingsgebet?
Ein Gebet, das mich seit meiner Kindheit begleitet, kommt gar nicht aus der Kirche. Es ist das Gebet der Freiheitsglocke. Das wurde früher jeden Sonntag um 12 Uhr im west-berliner Radiosender Rias gespielt. Dazu habe ich in Schöneberg auch die Freiheitsglocke aus dem nahegelegenen Rathaus gehört. Das Gebet geht so:

Ich glaube an die Unantastbarkeit und an die Würde jedes einzelnen Menschen. Ich glaube, dass allen Menschen von Gott das gleiche Recht auf Freiheit gegeben wurde. Ich verspreche, jedem Angriff auf die Freiheit und der Tyrannei Widerstand zu leisten, wo auch immer sie auftreten mögen. Die Freiheitsglocke und den Freiheitsschwur kann man sich bei youtube im Internet anhören.

Heute klingt dieser Text mit dem Geläut vielleicht etwas pathetisch, vor allem der zweite Satz. Und ich bin froh, dass ich diesen Widerstand mit Widerspruch und freier Meinungsäußerung leisten kann. Aber der erste Teil beschreibt mein Menschenbild ganz gut, und das wurde sicher auch durch dieses wöchentliche Gebet im Radio geprägt.

Was wünscht Du Dir für die Zeit nach Corona?
Erstmal wünsche ich mir, dass diese Zeit bald kommt! Für diese Zeit wünsche ich mir, dass wir nicht einfach nur in alte Gewohnheiten zurückfallen. Ich wünsche mir, dass wir den menschlichen Kontakt, den wir jetzt vermissen, dann auch weiter wertschätzen und vielleicht noch freundlicher miteinanderumgehen. Ich wünsche mir, dass wir erkennen, was wir nicht gebraucht haben und welcher Verzicht uns vielleicht sogar gutgetan hat. Und dass wir darauf auch nach Corona weiterhin verzichten.
Und ganz persönlich wünsche ich mir noch ein paar Semester mit Präsenzunterricht an der Uni.
Lieber Stefan, ich danke Dir und wünsche Dir und Deiner Familie alles Gute und Gottes Segen.
 
Mit Stefan Treysse sprach Pfarrer Christoph Heil.